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Long Distance Care

Wenn zwischen Dasein und Fürsorge 200 Kilometer liegen

Über drei Millionen Pflegebedürftige werden in Deutschland zuhause von ihren Angehörigen versorgt. Wie sieht es aus, wenn die Angehörigen mehrere 100 Kilometer entfernt wohnen?

25 Prozent der Pflegenden in Deutschland versorgen ihre Angehörigen auf Distanzen von über 25 Kilometer, 14 Prozent legen sogar 100 Kilometer oder mehr für die Versorgung zurück. Das ergaben Zahlen der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE). Trotzdem fliegt das Phänomen „Distance Caregiving“, also die Pflege auf Distanz, derzeit noch unter dem Radar. Da die individuelle Mobilität stark zugenommen hat, ist es nicht mehr die Norm, in der gleichen Stadt wie die Eltern oder Großeltern zu wohnen. Nach Einschätzung des Zentrums für Qualität in der Pflege wird sich dieser Trend in den kommenden Jahren weiter fortsetzen. Damit steigt auch die Häufigkeit der Pflege auf Distanz. 

Die Zahlen von SHARE zeigen: Unabhängig von der Distanz sind es überwiegend Frauen (60 – 64 Prozent), die die Pflegearbeit verrichten. Die langen Distanzen bringen große zeitliche, logistische und psychische Herausforderungen mit sich. Die Mehrfachbelastung, die Frauen durch Arbeit und Pflege haben, wird bei größerer Distanz noch verstärkt. Das Zeitbudget schrumpft und mehr Geld geht für die Fahrt zu den Angehörigen drauf. Hinzu kommt, dass Frauen seltener Zugang zu Autos haben und stattdessen den ÖPNV nutzen, was mehr Zeit kostet. 

Seit Jahren beobachten die dbb frauen, dass Frauen für die Pflege von Angehörigen häufiger in Teilzeit gehen oder ihre Arbeit niederlegen als Männer. Durch den reduzierten oder fehlenden Erwerb sinken im Rentenalter die Rentenansprüche und die Gefahr für Altersarmut steigt. Milanie Kreutz, Vorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung, fordert ein Umdenken seitens der Gesellschaft und der Arbeitgebenden: „Wir müssen Geschlechterrollen hinterfragen und die Verteilung von Sorgearbeit umgestalten. Frauen muss es möglich sein, ihre Karrieren ohne unnötige Hindernisse zu verfolgen und gleichzeitig ein Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben zu finden. Es braucht bessere Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige. Das zeigen uns die hunderten Kilometer, die viele Angehörige mittlerweile auf sich nehmen, um ihre Liebsten zu pflegen.“ 

Distanz ist Teil des Problems, aber manchmal auch Teil der Lösung 

Prof. Dr. Annette Franke, Professorin für Gesundheitswissenschaften, Soziale Gerontologie und Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, leitet seit mehreren Jahren das Forschungsprojekt „Distance Caregiving“ und hat die Daten von SHARE ausgewertet. Ihre Auswertung spiegeln unter anderem den psychischen Druck wieder, unter dem viele Angehörige stehen: Pflegende Angehörige, die höhere Distanzen zurücklegen, haben häufiger Angst, für die Person nicht ausreichend da zu sein.  

Gleichzeitig ist für viele die Pflege auf Distanz aufgrund der Überlastung der stationären Pflege die effektivste Möglichkeit. Im Rahmen ihrer Forschungen hat Franke zahlreiche auf Distanz Pflegende und Gepflegte interviewt. In den gesammelten Erfahrungsberichten sagen einige Pflegende sogar, dass die Pflege auf Distanz auf emotionaler Ebene besser funktioniert, als konstant vor Ort zu sein. Auf einem Vortrag der Konferenz „Perspektiven und Potenziale für pflegende Angehörige“ im Jahr 2022 fasste sie die Ambivalenz der Pflege auf Distanz zusammen: „Distanz ist Teil des Problems, aber manchmal auch Teil der Lösung.“  

Kreutz gibt die Folgen der zunehmenden Pflege auf Distanz zu bedenken: „Je länger der Weg ist, desto weniger bleibt von den sieben mal 24 Stunden in der Woche übrig. Diese Aufgabe darf nicht überwiegend an den Frauen hängen bleiben. Wir brauchen eine echte geschlechtergerechte Verteilung der Sorgearbeit und ein Ende der wirtschaftlichen Nachteile für pflegende Angehörige. Denn auch 200 Kilometer fahren überwindet keinen Gender Gap.“ 

 

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