75 Jahre Grundgesetz
Die Geschichte der Gleichberechtigung
Der Gleichberechtigungsgrundsatz war und ist in Wissenschaft, Politik, aber auch im demokratischen Alltag bis heute immer wieder Anknüpfungspunkt für Diskussionen und Vorschläge.
Von Anna Diegeler-Mai
Entstehung
Schon die Entstehungsgeschichte von Art.3 Abs.2 Satz 1 GG – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ - hat es in sich: Von „Vor dem Gesetz sind alle gleich“ über „Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ und „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“, bis zur heutigen Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ war es ein weiter Weg. Dieser führte sogar über die Alarmierung der Öffentlichkeit– damals durchaus ungewöhnlich.
In mehreren Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates, der 1948 von den elf Länderparlamenten der Westzonen gewählt und mit der Erarbeitung einer provisorischen Verfassung beauftragt worden war, wurde über den Gleichheitsgrundsatz und mehrere unterschiedliche Formulierungen für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen beraten. Der ihm übergeordnete Hauptausschuss lehnte die von der SPD-Politikerin Elisabeth Selbert - eine der vier von 65 stimmberechtigten Mitgliedern des Parlamentarischen Rates - in die Beratungen eingebrachte Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ab, einschließlich der im Ausschuss für Grundsatzfragen vertretenen weiteren Frauen Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum).
Letztere ließen sich jedoch schnell überzeugen, weil auch ihnen die mit den anderen Formulierungen bei möglicherweise notwendiger Auslegung der Begriffe durch die Gerichte eine gedankliche Reduzierung der Gleichberechtigung auf die „Wahlberechtigung und Wählbarkeit von Frauen“ angesichts der gebotenen rechtlichen Regelungsnotwendigkeiten zum Beispiel für die veralteten Regelungen im BGB dann doch zu eng erschienen. Und Elisabeth Selbert schlug in ihrer Fraktion als Kompromiss gemeinsam mit der späteren zweiten weiblichen Richterin am Bundesverfassungsgericht Wiltraud Rupp-von-Brünneck ihre Formulierung als Übergangsregelung vor, der die SPD-Fraktion unter der Führung von Kurt Schumacher zustimmte. Dennoch wurde der Wortlaut im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wieder abgelehnt.
Elisabeth Selbert gab nicht auf. Sie wandte sich schriftlich und als Gastrednerin in vielen Veranstaltungen an die gut vernetzten berufsständischen, konfessionellen und gewerkschaftlichen Frauengruppen, die in vielen Zuschriften - man sprach von „Waschkörben von Eingaben“ - den Parlamentarischen Rat fast bestürmten und die Formulierung von Elisabeth Selbert einforderten. Dann war es so weit: In der Sitzung am 18. Januar 1949 beschloss der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates unter dem Vorsitz von Carlo Schmidt (SPD) sogar einstimmig den noch heute geltenden Wortlaut des Art. 3 Abs.2, Satz 1: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.
Die im Grundgesetz festgeschriebene Übergangsfrist bis Ende März 1953 konnte allerdings nicht eingehalten werden. Das geschah erst mit Verabschiedung des sogenannten Gleichberechtigungsgesetzes im Mai 1957, als das Familienrecht in wesentlichen Punkten an den Gleichberechtigungssatz im Grundgesetz angepasst wurde.
Wiedervereinigung
Der Einsatz der vier Mütter des Grundgesetzes wirkt bis heute nach. Bei Art.3 Abs.2 Satz 1 blieb es auch für die am 5. November 1993 von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK), die Ende November 1991 eingesetzt wurde, um sich gemäß Art. 5 des Einigungsvertrages „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“.
Schon vorher hatte sich das Bundesverfassungsgericht in der sogenannten „Nachtarbeitsentscheidung“ wieder mit Gleichberechtigungsfragen befasst und urteilte im Januar 1992: „Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Der Satz: ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘ will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen. Er zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse. So müssen Frauen die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer. Überkommene Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für Frauen führen, dürfen durch staatliche Maßnahmen nicht verfestigt werden. Faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, dürfen wegen des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3 Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden“.
Die Ergänzung des Art.3 Abs.2 auf Empfehlung der GVK um den heutigen zusätzlichen Satz 2: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“ aus dem Jahr 1994 war die logische Folge.
Situation heute
Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnis und bleibenden politischen Forderungen, faktische Nachteile von Frauen in Staat und Gesellschaft abzubauen, kommen um den Begriff der Gleichberechtigung immer wieder, wenn auch von einer Minderheit, Diskussionen, vor allem in konservativen Kreisen und auch bei jüngeren beruflich erfolgreichen Frauen, auf. Es wird zum Beispiel darüber diskutiert, ob das Grundgesetz der Begriff der Gleichberechtigung den der Gleichstellung von Männern und Frauen in Staat und Gesellschaft mitumfasst oder nicht. Die frühere Bundesministerin Dr. Kristina Schröder und Prof. Dr. Andreas Rödder schrieben zum Beispiel am 13. Juni 2022 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Gleichstellung und Gleichberechtigung stehen für unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Wer Gleichstellung sagt und meint, Gleichberechtigung zu meinen, weil Begriffe doch nicht so wichtig seien, darf sich nicht wundern, wenn hinterher tatsächlich Gleichstellung praktiziert wird.“
Oder: Jüngst hatten sich über 500 Mitglieder der CDU bei der Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm der CDU in einem Mitgliederantrag dafür ausgesprochen, das im bisherigen Grundsatzprogramm verankerte Prinzip der Notwendigkeit, die Gleichstellung von Männern und Frauen erreichen zu wollen zu streichen und allein den Begriff der Gleichberechtigung gelten zu lassen. Caroline Bosbach, Bundesvorsitzende des Jungen Wirtschaftsrates formulierte es im April diesen Jahres auf Instagram so: „Fokus auf gleichen Startchancen (Gleichberechtigung) statt Ergebnisgleichheit (Gleichstellung): Wir müssen die Menschen endlich so nehmen, wie sie sind – mit ihren unterschiedlichen Begabungen und Interessen. Gleichstellungspolitik ist Identitätspolitik. Sie reduziert den Einzelnen auf Gruppenidentitäten und entwertet die Vielfalt individueller Perspektiven. Deswegen: keine Gleichmacherei, sondern Wahlfreiheit und Chancengerechtigkeit für alle!“
Die begriffliche Trennung von Gleichberechtigung und Gleichstellung geht wohl auf die von Dr. Wolfgang Schäuble, MdB im Rahmen der Debatte um das zweite Gleichberechtigungsgesetz 1993 vorgenommene Herleitung zurück, an die nun wieder angeknüpft wurde.
Der Bundesparteitag der CDU hat im Mai dieses Jahres der künstlichen Trennung der Begriffe „Gleichberechtigung“ und „Gleichstellung“ dennoch eine klare Absage erteilt. Im neuen Grundsatzprogramm heißt es nun: „Wir arbeiten für ein Land, in dem die Gleichberechtigung der Geschlechter und die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau verwirklicht ist. Unsere freiheitliche Gesellschaft fußt auf dem christlichen Verständnis vom Menschen, den Errungenschaften der Aufklärung und Emanzipation. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau und der gegenseitige Respekt voreinander folgen aus unserem Bild vom Menschen und prägen unser Verständnis von Partnerschaft im Zusammenleben in Ehe, Familie und Gesellschaft. Wir wollen eine moderne Gesellschaft, in der Frauen wie Männer gleichermaßen mitwirken, ihre Stärken und Kompetenzen entfalten können und wertgeschätzt werden. Sie müssen die besten Chancen auf eine gute Bildung, faire und gleiche Löhne, sichere Arbeitsplätze und beruflichen Aufstieg“.
Fazit:
Art.3 Abs.2 mit Satz 1 und die Ergänzung in Satz 2 GG ermöglichen weiterhin die zukunftsgerichtete, kontinuierliche Weiterentwicklung aller mit der Gleichberechtigung von Männern und Frauen immer noch aktuellen Problemlagen der strukturellen und faktischen Gleichberechtigung. Alle Versuche, durch gesetzliche oder tarifliche Neuregelungen auf Basis wissenschaftlicher Untersuchungen und Feststellungen mit oder ohne Quotenregelungen Abhilfen zu schaffen, sind aller Ehren wert. Und: Die von Elisabeth Selbert selbst 30 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes getroffene Feststellung: „Erst mit dem Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, der im tiefsten Sinne revolutionären Charakter hat, ist den Frauen in der Bundesrepublik Deutschland die Rechtsgleichheit auf allen Gebieten garantiert“, gibt zugleich den Gestaltungsauftrag auch für die Zukunft vor.
Die meisten gesellschaftlichen Gruppen sind sich im derzeitigen politischen Diskurs insgesamt sehr einig. Wenn es den „Müttern des Grundgesetzes“, allen voran Elisabeth Selbert und Friederike (Frieda) Nadig (SPD) sowie den beiden anderen Frauen im Parlamentarischen Rat, Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum) nicht parteiübergreifend gelungen wäre, den Satz 1 des Artikel 3 Abs.2 in das Grundgesetz aufnehmen zu lassen, würden auch heute noch viel grundsätzlichere Debatten zu diesem Thema geführt. Heute geht es nicht mehr um das „Ob“, sondern mindestens seit Anfang der 1990er Jahre im Grunde „nur noch“ um die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung im Lebensalltag, egal welche und wie entsprechende Begriffe genutzt werden.
Wenn es zum Beispiel im Journal der Gleichstellungsbeauftragten es Deutschen Bundestages „Schöne Aussichten“ (Ausgabe 1/ 2024) heißt: „Der Auftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG hat auch im Jahr 2024 nicht an Relevanz verloren. Die Förderung der Gleichstellung bleibt ein zentrales Thema, um Chancengleichheit zu realisieren und so tatsächliche Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen“, ist damit zugleich die Aufgabe für die nähere und weitere Zukunft treffend zum Ausdruck gebracht.